mariomuenster

Meinung zu Themen unserer Zeit

Guter Migrant, böser Migrant

Für die Berliner macht es offenbar einen großen Unterschied ob man aus Kansas oder Kenia nach Berlin kommt. Ein paar Gedanken zum Thema Migranten-Bashing.

Kürzlich saß ich zu vorgerückter Stunde in einem Restaurant im Prenzlauer Berg. Meine Gesellschaft bestand teilweise aus jungen Frauen und Männern, die englisch sprechen. Weil sie aus Ländern kommen, in denen man eben englisch spricht. Also unterhielten wir uns auf englisch. Über das selbstgebraute Bier und über Songs. Was man so redet. Aber da war dieses Unbehagen. Diese Blicke der eingesessenen Zugezogenen an den Nachbartischen, die mir sagten: „Ah, diese Touristen!“ oder vielleicht auch „Ah, diese amerikanischen Neuberliner!“ Ich fühlte mich als etwas abgestempelt, dass ich gar nicht bin. Vielleicht habe ich das alles auch nur in diese Blicke hineininterpretiert. Wie auch immer, ich hatte den Drang deutlich zu machen, dass ich kein Tourist bin und kein Ex-Pat-Frischling. Und dieser Drang muss ja irgendwo seinen Ursprung haben. Das denke ich mir ja nicht aus. Von Verfolgungswahn wüsste ich. Hoffentlich…

Ein paar Tage später, gestern, genauer gesagt. Im Sonnenschein eines Kreuzberger Morgens ziehe ich meinen Koffer die Schlesische Straße entlang zum Bahnhof. Ich verreise. Privat-dienstlich. Und da ist wieder dieses Gefühl. So ein kleiner Kobold, der auf meiner Schulter sitzt und mir einflüstert, dass die jetzt alle denken, ich sei so ein Easyjet-Tourist, der in einer gewerblich vermieteten Privatwohnung ein paar Tage lang hauste, um das Berliner Nachtleben mit seiner Exotik zu bereichern, ehe er dann wieder nach Stockholm fliegt. Und wieder der Gedanke: Wie kann ich jetzt zeigen, dass ich ein Einheimischer bin? Resident! Ich überlege kurz einfach laut in den blauen Himmel zu brüllen „Ick liebe dir Marlene“ oder ein paar Passanten anzurempeln. Eben was authentisch Lokales. Am Ende des Gedankens sitze ich zum Glück schon im Taxi.

Und jetzt frage ich mich: Was soll das? Warum unterscheidet man in den mutmaßlich aufgeklärten Berliner Innenstadtbezirken in der dieser Stadt so einzigartigen Dialektik zwischen guten und bösen Migranten? „Warum tun die das?“, um es mal mit Fraktus zu sagen.

Berliner Volksmoral: Von guten und bösen Migranten

Vielleicht zur kurzen Erklärung der innerstädtischen Berliner Volksmoral in Sachen Migration:

Migrant, der gute.
Aus Schwarzafrika, Bulgarien oder Rumänien. Arme Hunde, alle. Kämpfen nicht selten ums Überleben als Drogenverkäufer, organisierte Bettler oder fahrende Musikanten. Man kann nicht sagen, dass die ungelösten Aufenthaltsfragen und Probleme dieser Menschen die Stadt bereichern. Aber sie sind hier. Das ist richtig so, weil es vermutlich, ja hoffentlich, besser als ihr altes Leben ist. Und wir sollten helfen. Denn eigentlich könnten sie eine Bereicherung für Berlin sein. Das ihnen die Solidarität so vieler sicher ist, ist ein zivilisatorisches Gut. Zwingend zu bewahren. Nicht selbstverständlich.

Migrant, der böse.
Aus den USA, Skandinavien oder Spanien. Oft gut ausgebildete junge Familien oder Leute mit Ideen, die unsere Stadt bereichern. Sie bringen Geld, neue Kultur, neue Kunst. Nicht selten gründen sie Unternehmen. Und wenn es nur ein Ort ist, an dem sie Kaffee durch eine Aeropress jagen oder die Spezialitäten ihrer baskischen Heimat anbieten. Sie machen vieles von dem aus, was Berlin heute lebenswert macht, was Berlin sich bewegen lässt. Bloß geliebt werden diese Menschen dafür nicht. Auf Solidarität können sie nicht hoffen. Gleichgültigkeit scheint noch das höchste der Gefühle zu sein.

Diese Volksmoral ist bis hierher schon verrückt. Es wird noch verrückter, wenn man mal annimmt, dass die Wortführer dieses Neuberliner-Bashings vor zehn Jahren selbst mal Neuberliner waren. Frei nach dem Motto: Ich habe schon Yoga gemacht, als es noch nicht cool war. Und völlig durchgeknallt wird die ganze Problematik, wenn man annimmt, dass sich die Einschätzung zur Frage, wer ein guter und wer ein böser Migrant ist, außerhalb des S-Bahnrings um 180 Grad dreht… Aber das ist ein ganz anderes Thema.

Von wegen Toleranz

Toleranz. Was rühmen sich die Kreuzberger, die Prenzlberger und die Mitte-Wohlfühl-Bourgeoise ihrer Toleranz. Voll weltoffen und so. Haben sie von ihren links-liberalen Mamis und Papis zwischen Lörrach und Oldenburg ja auch in ihre DNA gebrannt bekommen. Aber wenn es jetzt drauf ankommt, ist dieser Wert aus dem bürgerlichen Moral-Kanon offenbar einen Scheiß wert. Toleranz ist, was wir draus machen. Over and out.

Und daher kommt das dann. Das ich ich mich anhand von äußerlichen Merkmalen bewertet fühle. Ein Koffer, eine Sprache, da ist doch alles klar. Es ist ätzend.

Da ziehe ich mich dann lieber zurück in die neuen Biotope. In mein Lieblingscafé, das ich schon länger habe, zu dem gerade aber eine neue Liebe entflammt. Weil mich da Männer aus der Holz-und Bartfraktion, die beim Justin Vernon Look-a-like-Contest bestimmt einen der vorderen Plätze belegen würden, sehr freundlich anlächeln, wenn ich meine Bestellung auf deutsch aufgebe. Und sie mir dann ein entwaffnend freundliches „sorry?“ entgegnen. Dann mach ich es noch mal in englisch und keinem fällt es auf, weil sie hier eh alle englisch sprechen. Ist das jetzt eine Parallelkultur? Ist mir egal. Hier drinnen werde ich nicht beurteilt. Die Zimtrollen sind die besten der Stadt. Und am Sonntag zum Frühstück liefen die Beach Boys im Hintergrund.

I wish they all could be California girls.

Mario Münster ist Mit-Gründer und Chefredakteur des Online-Magazins ROSEGARDEN. Er arbeitet zudem als unabhängiger Kommunikationsberater und Campaigner.
Diese Meinungsäußerung ist privat.

The REAL Fingergate

Peer Steinbrück zeigt auf einem Foto den gestreckten Mittelfinger.
Ist das ein Skandal?
Nein.

Skandalöser sind da andere, weniger explizite aber gravierendere Mittelfinger.

Der Stinkefinger, den die FDP 11.000 Schlecker-Angestellten zeigte, als sie sich weigerte einer staatlichen Transfergesellschaft zuzustimmen. Bloß, um aus Angst vorm eigenen Untergang mal wirtschaftsliberale Kante zu zeigen.
Ist das ein Skandal?
Ja.

Der Stinkefinger, den die CDU tausenden gleichgeschlechtlichen Paaren zeigt, die gerne ein Kind adoptieren würden.
Ist das ein Skandal?
Ja.

Der Stinkefinger, den CDU-geführte Kommunalparlamente hundertfach jungen Menschen mit Integrations- und Schulproblemen zeigen, in dem sie reihenweise Maßnahmen aus den Haushalten kürzen, die das Ziel haben, allen jungen Menschen die Chance auf einen Bildungsabschluss zu geben.
Ist das ein Skandal?
Ja.

Um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Immerhin.
Nach einem Schnarchwahlkampf ist das eigentlich Großartige:
Das Duell Merkel gegen Steinbrück erlebt nun seine Klimax in zwei Handzeichen.
Die stalinesque überlebensgroße Merkel-Hand-Muschi am Berliner Hauptbahnhof.
Und Peers Mittelfinger auf dem Cover des SZ-Magazins.
Ist das nicht herrlich?!

Bleibt abschließend zu klären:
Darf ein deutscher Politiker den Stinkefinger zeigen?
Ja.
Hätte Peer Steinbrück wissen müssen, dass die Veröffentlichung dieses Fotos zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht problematisch sein könnte?
Ja.
Ist es eigentlich bigott in Sonntagsreden mehr echte Typen in der Politik zu fordern und dann „Skandal“ zu rufen, wenn mal einer kommt?
Ja.
Brauchen wir dennoch einen Regierungswechsel?
Unbedingt!

Selbstkritisch:
Ist es geistreich vom Autor über ein Thema zu schreiben, zu dem in den vergangenen zwölf Stunden schon alles geschrieben wurde aber noch nicht von allen?
Geht so…
Aber ich kann nicht anders.

Mario Münster ist Mit-Gründer und Chefredakteur des Online-Magazins ROSEGARDEN.
Diese Meinungsäußerung hier ist privat.

Worüber wir uns erregen

High-Five Claudia, Plagiat-Ministerin, Pannen-Peer und Rassen-Hahn – gibt es nichts Wichtigeres in Deutschland?

Es gibt bestimmte Modebegriffe, die lösen so ein Unwohlsein aus: Erregungs-Demokratie und Erregungs-Journalismus gehören da für mich zu. Immerhin muss man beiden Phänomenen lassen: Sie beschreiben einen Zustand, in dem der Bürger oder der Journalist irgendwie aktiv sind, Dinge wahrgenommen werden. Das ist schon weitaus besser als die abgestumpfte Gleichgültigkeit, mit der viele vieles hinnehmen.

Spannend ist aber die Frage, worüber sich denn so erregt wird. Freitags genehmige ich mir eine ausführlichere Zeitungslektüre. Muss auch mal sein. Heute also jeweils mindestens eine Viertelseite heftige Erregung über:

Die Frage ob eine Bildungsministerin noch Bildungsministerin sein darf, wenn sie den Grundethos akademischer Arbeit mutmaßlich missachtet hat. Spannend, dass darüber überhaupt diskutiert wird.

Einen Landespolitiker, der offen darüber spekuliert ob die Menschen in diesem Land die Zufriedenheit mit der Arbeit des Vizekanzlers irgendwie an rassischen Aspekten festmachen. Naiv übrigens, wer geglaubt hat, die jahrelange Nähe zur hessischen CDU würde spurlos an der hessischen FDP vorbeigehen.

Eine Grünen-Politikerin, die dem iranischen Botschafter die Hand zum Gruß hebt. Vielleicht ein Hinweis für das nächste Mal, Claudia: Lieber Fist-Bump als High-Five. Da kann man in der post-failure-Scherben-aufkehr-Kommunikation behaupten, du wolltest dem Typen eine reinhauen.

Eine Truppe alter weißer Männer, die gerne mit einem Weblog dabei helfen wollte, dass ein älterer weißer Mann Bundeskanzler wird. Extrem putzig die Debatte. Extrem verwirrend auch der Kommentar in der Süddeutschen dazu. Der Vollständigkeit halber: Obama hat seine Wahlen nicht im Internet gewonnen, sondern an der Haustür der Amerikaner. Aber er hatte Leute, die klug genug waren Online-Instrumente zu nutzen, um das zu steuern.

Insgesamt also alles irgendwie irre.

Wäre es nicht schön, wenn sich Journalisten, Blogger, Online-Kommentarschreiber und alle anderen Erreger mal mit der gleichen Intensität darüber erregen, dass:

… in Deutschland beinahe ein Viertel aller Kinder nicht mehr das Bildungsniveau ihrer Eltern erreichen?

…  in Deutschland etwa 1 Millionen Menschen von ihrem Lohn alleine nicht leben können und deshalb ergänzend Hartz IV beziehen müssen?

…. es in den Städten und Gemeinden des Landes einen Investitionsstau von 100 Mrd. Euro gibt, der sich in kaputten Straßen, löchrigen Schuldächern, ausbleibender energetischer Gebäudesanierung und ausbleibenden Aufträgen für mittelständische Unternehmen niederschlägt?

… man in Berlin versucht zwanzig Jahre Tiefschlaf in der aktiven Stadtentwicklung nun mit symbolischen Aktionen wie dem Verbot der Nutzung von Mietwohnungen als Ferienwohnung rückgängig zu machen?

… in den Investment-Banken schon wieder Boni fließen als hätte es die Jahre 2008 bis 2010 nie gegeben?

Geht da noch was in Sachen sinnvoller Erregung?

Wäre schön.

Ach du Güte gut! Eine öffentliche Resignation im Angesicht der merkwürdigen Metropolen-Debatte – nicht ganz ohne Anregungen.

Wann weiß man, dass mal wieder eine thematische Sau durchs Dorf getrieben wird? Genau, wenn Süddeutsche und Die Zeit das Thema im Feuilleton behandeln und dabei Philip Mißfelder zitieren. Diesmal geht es um die Begriffe „Urban“ und „Metropole“. Anlass des Ganzen: Die Tatsache, dass die CDU in deutschen Städten, sagen wir mal, abkackt. Sollte eigentlich keine Debatte wert sein, schon klar.

Mir geht es beim lesen der in diesem Kontext erschienenen Texte ein wenig wie Jar Jar Bings, der lustig-chaotischen Figur aus Star Wars, die, wann immer die Dinge aufregend werden, ihre viel zu langen Arme nach oben wirft, selbige dann resignierend nach unten fallen lässt, dabei die Augen verdreht und „Ach du Güte gut“ ruft.

Ausgerechnet die Süddeutsche (Hier online) und Die Zeit („Wir Stadtkinder, Zeit 47/2012)! Zwei der wenigen Blätter denen man noch orientierenden Charakter zusprechen möchte mischen da mittendrin leider auch vieles drunter und drüber anstatt etwas Klarheit in die Sache zu bringen. Die sich mittlerweile verselbstständigende These lautet sinngemäß zunächst: Urban bzw. Metropole bedeutet viele Homosexuelle, viele alternative Lebensentwürfe, Patchwork-Familien, Café Latte und Hipster (Ja, ich weiß, da zuckt man schon das erste Mal). Das alles sei eigentlich ungleich dem Gesellschaftsbild der CDU. Im Ergebnis also keine Chance für die Partei in der Stadt, wenn sie nicht auch patchworkiger, schwuler und irgendwie schaumiger wird. Aber huch, die CDU hat ja in Stuttgart einen Werber aufgestellt und auch mal einen schwulen Regierenden Bürgermeister gehabt. Vertraut man der genannten schaurigen Definition von Metropole… genau, dann ist die CDU ja schon voll urban, metropolig! Oder geht es am Ende doch um andere Fragen und Analysen auf dem Weg zu den richtigen Antworten?

Ich glaube schon. Drei Aspekte:

1. Stadt ist mehr als Szenebezirke.

Wenn da so von Städten und Urbanität gesprochen wird findet das in einem auf mutmaßlich angesagte Innenstadtbereiche verknappten Fokus statt. Es mag ja sein das in HH-Ottensen und Berlin-Kreuzberg das Leben so unglaublich am Puls der Zeit ist, dass nur die Grünen und die Piratenpartei diesen wahnsinnigen Ritt auf der Welle bestehen. Aber zum Glück ist Stadt und damit Urbanität ja mehr als Biomarkt, Easyjet-Touristen und DIY-Pop-Up-Stores. Stadt ist ganz normales Leben. Arm, reich, aufgeschlossen, verstockt, kriminell, bieder, sauber, schmutzig, modern, altbacken.

2. Die Avantgarde wählt die ober-coolen Szene-Bürgermeister.

Die im Kontext der Debatte viel zitierten Städte, die nun alle keinen CDU-OB mehr haben, werden mit Ausnahme von Stuttgart (da ist doch eh alles verloren, oder?) von der SPD regiert. Weil die SPD so unglaublich state of the art ist. Weil in den Szene-Bezirken hunderte Bartträger Jute-Taschen mit Sigmar Gabriel Konterfrei tragen. Die SPD also: Die Partei der Stunde. Irgendwo zwischen der Mode von Urban Outfitters und dem Hipster-Dream Pop von Beach House. Klingt irgendwie falsch, ne? Ist es auch.

Denn die SPD gewinnt diese Wahlen nicht im Mikro-Wählersegment irgendeiner urbanen Avantgarde. Sie gewinnt sie dort, wo Stadt nicht cool ist. Bleiben wir in Frankfurt: Peter Feldmann tingelte durch die Sozialwohnungen, durch benachteiligte Wohngebiete und präsentierte sich als einer, der mal dahin geht, wo sonst keiner hingeht. In diesen Gebieten lag der Grundstein für seinen Wahlerfolg und eben nicht in den innerstädtischen Laboren der neuen schwarz-grünen Spießigkeit. Noch ein Beispiel? So lange in Berlin auch außerhalb des BVG-Tarifgebiets A gewählt werden darf, ist die irre Annahme, ein Grüner oder eine Grüne könnten Regierender Bürgermeister unserer kleinen schmuddeligen Metropole an der Spree werden, einfach nur gaga. Denn auch hier gilt: Stadt, das ist Oberschöneweide, Alt-Glienike, Hellersdorf usw. Man kann die Übung für Köln, Hamburg, Gelsenkirchen und andere Städte turnen. Die Erkenntnis bleibt die Gleiche. Es wird nicht der OB für die drei tollsten Bezirke gesucht, sondern für die gesamte Stadt.

3. Die CDU muss jetzt metropoliger, also cooler werden. Go for it, arme Irre!

Man möchte um Himmels Willen ja einen Schaumschläger wie Philipp Mißfelder  nicht hoffähig machen. Aber seine Aussage, die CDU müsse sich nicht so lange verbiegen, bis es jedem Bohèmien gefällt, ist vermutlich richtungsweisender als viele andere Ratschläge, die man der CDU in dieser Frage geben kann.

Zwei Bemerkungen dazu. Erstens: Mißfelder sollte die Bohèmien-Ausstellung im Pariser Grand Palais anschauen. Die Großstadtluft wird ihm gut tun und er kann was lernen. Ein Abstecher nach Clichy-sous-Bois nicht vergessen für die echte Großstadtluft. Keep it real und so…

Zweitens: Mißfelder versucht sich (vermutlich ohne es zu wissen) in der wunderbaren kommunikativen Technik des „Dog Whistlings“. Die funktioniert so: Man verwendet Begriffe, die in der eigenen Klientel wie ein Code funktionieren, darüber hinaus aber bei wenigen Leuten eine Reaktion hervorrufen – also nicht gehört werden. George W. Bush war ein Meister dieser Technik. Er verwendete vornehmlich biblische Sprachbilder und Gleichnisse, die dem gemeinen Amerikaner zunächst wenig bedeuteten, aber in der extremen Glaubens-Klientel der Republikaner verfingen. Kluge Sache das.

Während sich ganz Deutschland also denkt „Was hat der Mißfelder denn mit den Bohèmiens?“ weckt der Begriff bei den alten und neuen Bürgerlichen in den innerstädtischen Kuschel-Bezirken sofort die Assoziation an diese Tunichtgute. Diese Freaks, die irgendwas mit Kunst machen, ein unstetes Leben führen und vor zehn Jahren den Grundstein dafür gelegt haben, dass der Bezirk, in dem man sich heute seine neue Bürgerlichkeit eingerichtet hat, zum Leben erweckt wurde. Diese Bohèmians werden in diesen Kreisen nämlich verachtet, denn sie machen einem so wunderbar deutlich wie aufregend das Leben sein könnte, wenn man nicht so ein Spießer wäre.

Will meinen: Es gibt in deutschen Großstädten eine relevante bürgerliche Masse. Seien es nun alte oder neue Bürgerliche. Seien es nun schwarz-grüne Bürgerliche oder das, was bei den Konservativen gemeinhin so am rechten Rand ausfranst. Muss ja nicht jeder gleich ein Rassist sein aber das die jungen Türken kriminell sind wird man ja wohl mal sagen dürfen, wa? Und machen müsste man da auch mal was. Es gibt also Menschen, die nicht da wohnen, wo es stinkt. Und Menschen, die sich nicht über Patchwork-Familien und Café Latte definieren. Sondern Menschen, die gut verdienen, traditionelle Werte haben, mit ihren kleinen Familien in sicheren Bezirken mit sauberen Parks leben wollen. Man muss das nicht gut finden, sicher. Aber auch diese Menschen brauchen eine politische Stimme. Hier hat die CDU Potenziale. Um die zu heben muss sie sich nicht einmal verbiegen.

In diesem Sinne kandidiert bei der nächsten Wahl in Berlin vielleicht doch nicht Devendra Bahnhart für die CDU sondern Philipp the Conqueror. Yeah!

Zwischen all diesen Bärten…

Im Internet gibt es ein wunderbares Video. In dem stehen Justin Vernon von der Band Bon Iver und Matt Berninger (The National) in einem Radio-Studio und geben gemeinsam den National-Song Vanderlyle Crybaby Geeks zum Besten. Die beiden sehen aus wie Klone, oder Zwillinge oder zumindest Brüder: Blondes ungekämmtes Haar, blonder Vollbart, die Seele mehr nach innen als nach aussen gekehrt. Spooky.

Vernon und Berninger (samt Band) sind zwei wuchtige Pfeiler der amerikanischen Musikszene, um die herum  seit Jahren somit das Beste geschrieben, produziert und veröffentlicht wird, was es an der messerscharfen Kante zwischen Indie-Geniestreich und Indie-Massenmarkt gibt. Der Vollständigkeit halber  – aber natürlich auch, weil er blondes, ungekämmtes Haar und einen tollen blonden Vollbart  trägt  – muss hier auch Bonnie Prince Billy genannt werden, der Gottvater. Geprägt wird ihre Musik von einer herausragenden Musikalität, genialen Arrangements und einem unverkennbaren Bekenntnis zu einem Amerika aus unseren Träumen  – mit weiten Straßen, grünen Wäldern, Bären, Seen und zum niederknien schönen Stadtteilen in Brooklyn.

Nimmt man diese drei als Ausgangspunkt, landet man unweigerlich bei vielen weiteren Zotteln. Sei es nun William Fitzsimmons oder Port O‘Brian. Diese Übung wurde in letzter Zeit oft geturnt. Wesentlich spannender ist aber ein Blick auf die Vielzahl phantastischer weiblicher Singer-Songwriter, die sich zwischen all diesen Bärten dazu aufschwingen die Welt zu verzaubern: Cheyenne Marie Mize, Sharon van Etten, Eleanor Friedberger oder nicht mehr ganz so neu, aber an dieser Stelle anschlussfähig: Kathleen Edwards. Sagenhafte, kunstvolle Namen tragen die Damen und geben ihrer Musik damit herrliche Label.

Cheyenne Marie Mize zählt zum Live-Ensemble von Bonnie Prince Billy und kommt, sehr passend, aus dem tief-amerikanischen Louisville, Kentucky. 2010 und 2011 veröffentlichte sie eigene Platten, die vor allem von ihrer beeindruckenden Stimme geprägt sind. In einem  verschlagenem Flirt mit Country-Musik wird ausgiebig gefidelt und die Klampfe gestrichen. Herrlich. Das Ganze ist so unprätentiös, dass man sich am liebsten sofort zu einem Drink mit der Dame einladen will, wäre da nicht das Höllen-Ding Namens Atlantik zwischen uns.

Noch viel weniger Angst vor Country hat die Kanadierin Kathleen Edwards. Schon seit 2003 dabei, aber ihr aktuelles Album Voyageur wurde von Justin Vernon produziert, der ihrer Musik den  entscheidenden Arschtritt in Richtung Großartigkeit gab. Angeblich sind die beiden mittlerweile ein Paar und holen sich ihre Inspiration vielleicht beim Squaredance.

Eng angedockt an The National ist Sharon van Etten. Nachbarschaft in Brooklyn scheint zu verbinden. Die zwischenzeitlich heimatlose van Etten wohnte offenbar vorübergehend bei Aaron Dessner (The National, Gitarre) in dessen Garage er dann auch gleich die Produktion des phantastischen Albums „Tramp“ übernahm, das Sharon van Etten beim Label Jagjaguar veröffentlichte. Und hier schließt sich ein weiterer Kreis, denn bei Jagjaguar veröffentlicht auch Justin Vernon. Hach, wie schön, wenn sich alle kennen. Auch van Etten macht nicht erst seit gestern Musik. Aber Dessner und sein Bruder Bryce garnierten Tramp mit dem richtigen Maß an Wildheit und arrangierten es mit viel Finesse. Das geht soweit, dass man den Song Serpents problemlos für einen The National-Song halten könnte: Das treibende Schlagzeug, der ewig langgezogene E-Bow-Gitarrenton… bloß: Hier singt ja kein Bart, sondern Madame van Etten.

Bleibt ein Blick auf Eleanor Friedberger. Vorzeige Neo-Hippie-Bohème-Hipster-NYC-Irgendwas. Spielt eigentlich in einer veritablen Indie-Combo mit ihrem Bruder (The Fiery Furnaces), lieferte 2011 aber mit ihrem Soloalbum „Last Summer“ den fluffig-urbanen Soundtrack für alles vom Sonntags-Brunch bis zum Aperitivo mit Freunden. Das geht so locker lässig rein ins Ohr, dass es eine wahre Freude ist und man die Platte ruhig einige Stunden als Endlos-Schleife hören kann. Für die Nerds: Angeblich verdanken wir den Franz Ferdinand-Song „Eleanor put your boots on“ dem Fräulein Friedberger. Die Franzens haben zwar keine Bärte und sind keine Amerikaner. Aber immerhin. Man ist wohl rumgekommen.

In diesem Sinne: Ein dreifaches Hoch auf Frauen ohne Bärte und mit Gitarren!

Monsieur le Flexidente

Nicolas Sarkozy muss um seine Wiederwahl 2012 bangen. Der Grund dafür ist vor allem er selbst. Hyperaktiv, omnipräsent und sprunghaft – das sind nicht zwingend Eigenschaften, die der Wähler honoriert. Doch Sarko wird kämpfen und nicht zögern auf Risiko zu spielen.

In diesen Tagen beginnen die Filmfestspiele in Cannes. Die französische Mittelmeerküste und ihr hügeliges Hinterland zwischen Menton und Saint Tropez sind zu dieser Jahreszeit ein Traum. Es duftet nach Jasmin, die Abende sind ausreichend lang und die Touristenmassen sind noch fern. Für den französischen Präsidenten geht in diesem Jahr von Cannes jedoch kein frühsommerlicher Zauber aus. Vielmehr kommt von dort ein weiterer Schlag  ins Kontor, denn bei dem Filmfestival feiert ein Kinofilm Premiere, der den Aufstieg der Person Sarkozy zeigt. “La Conquête” von Regisseur Xavier Durringer, soll nach allem was man hört das Bild eines von Ehrgeiz und Rücksichtslosigkeit getriebenen Politikers sein, der sich in das höchste politische Amt Frankreichs boxt. Vermutlich ist der Film recht authentisch. Ein offenbar kritischer Kinostreifen ist per se schon unschön, für einen, der sich zwölf Monate später wieder zum Staatsoberhaupt wählen lassen will. Wirklich bitter muss es für Sarkozy sein, dass mit diesem Film erstmals ein amtierender Staatspräsident zum „Kinohelden“ wird. Kein Respekt vor Sarkozy.

Diese Respektlosigkeit verdeutlicht, wie es um Sarkozy bestellt ist. Die Chancen auf eine Wiederwahl sind nicht übermäßig groß – Amtsbonus ist etwas anderes. Sarkozys Lage ist wie so oft in der Politik das Ergebnis vieler Probleme. Eine Hauptursache dafür ist aber sicherlich, dass Sarkozy in seiner ersten Amtszeit keine klare Linie hat und immer wieder auf neue Themen gesprungen ist – teilweise einhergehend mit schnellen Wechseln in der Tonalität und im Stil des eigenen Auftritts. Ein solches Verhalten ist für jeden Politiker schlecht. Für Sarkozy wirkt es doppelt beschädigend, weil er eigentlich mit dem Versprechen nach Geradlinigkeit und Verlässlichkeit angetreten ist.

Sechs Jahre Sarkozy: Eine Strecke voller Kurswechsel

Doch wenn man die Sarkozy-Jahre von 2005 bis heute anhand einzelner Themen im Zeitraffer betrachtet, ist das mehr „comme ci comme ca“ als klare Kante: Im Vorwahlkampf kärcherte sich Sakozy durch die Pariser Banlieue. Auf einem hochprofessionellen UMP-Parteitag inszenierte er sich als Gallionsfigur einer stolzen Nation und schaffte es so Wähler zu binden, deren nicht selten kriegsversehrter rechter Arm auf dem Wahlzettel auch gerne mal in Richtung Front National zuckt. Immerhin ein Verdienst von Sarko.

Er versprach eine Zäsur. In einem Land, das in vielen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen eingefahren und nur schwer erneuerungsfähig schien, war auch das eine Botschaft, die Aufbruch und neue Zeiten signalisiert.

Zu Beginn seiner Amtszeit legte Sarkozy viel Wert darauf diese neue Zeit auch mit starken Symbolen zu inszenieren. Er machte einen Vorzeige-Linken zum Außenminister als Zeichen einer politischen Öffnung und eines neuen Pragmatismus. Er zauberte mit Rachida Dati und Rama Yade zwei junge gut aussehende Französinnen mit Migrationshintergrund an die politische Front und machte auch hier deutlich: Seht her, ich stehe für eine Administration, in der die Augen vor der gesellschaftlichen Realität nicht verschlossen werden.

Und dann war da noch das deutsch-französische Verhältnis. Die Achse Paris-Berlin wurde mit Sarkozys Amtsantritt ein Dreh- und Angelpunkt französischer Aussen- und Europapolitik. Sogar einen deutsch-französischen Minister, der im deutschen und im französischen Kabinett sitzt, wollte Sarkozy.

Bloß was ist von all dem heute übrig? 

Die Damen Yade und Dati gehören schon einer Weile nicht mehr dem Kabinett an. Viele vermuten auch deshalb, weil sie zu aufmüpfig wurden.

Die Banilieue in Paris ist immer noch eine soziale Katastrophe.

Bernard Kouchner einer der größten Personal-Coups, die Sarkozy zu Beginn seiner Amtszeit landete, ist als Außenminister Geschichte. In diesem Amt sitzt jetzt wieder Alain Juppé, der schon im vergangenen Jahrhundert unter Chirac Premierminister war und zu dem gehört, was man getrost „alte Garde“ nennen kann. Von Kouchner zu Juppé – augenfälliger kann ein Kurswechsel nicht sein.

Und die Nähe zu Angela Merkel und Berlin hat sich auch wieder relativiert: Im Streit um Finanzhilfen innerhalb der EU und zuletzt in Sachen Libyen.

Letzte Chance Libyen?

Womit wir bei dem momentan entscheidenden Stichwort sind: Libyen.

Sarkozy hat darin eine seiner letzten Chancen gesehen um sich bei den Franzosen wieder etwas mehr Ansehen zu verschaffen. Und für den Moment scheint ihm das zu gelingen. Das forsche Vorgehen des Präsidenten, der gar nicht schnell genug mit dem militärischen Eingreifen beginnen konnte, gibt den bei nordafrikanischen Krisen notorisch betroffenen Franzosen das Gefühl etwas Wichtiges und Ehrenhaftes zu tun.

Sogar bei den französischen Intellektuellen wird die Rolle Frankreichs in Libyen gelobt. Auch, weil der in Algerien geborene französische Philosoph Bernard-Henri Lévy (ja, in Frankreich zählen Philosophen noch was) zum Präsidentenberater in der Sache avancierte. 2007 weigerte sich Lévy noch zur Wahl von Sarkozy aufzurufen. Aber wie auch immer: Wer in Frankreich für sein politisches Handeln das „OK“ aus dem Mund der Intellektuellen erhält, kann sich einer gewissen öffentlichen Zustimmung zu seinem Handeln sicher sein.

Sarkozys Agieren bei diesem Thema zeigt aber auch noch einmal sehr deutlich: Sarko ist ein Spieler. Wenn er eine Chance wittert, ergreift er sie und spielt dabei volles Risiko. Im Präsidentschaftswahlkampf 2007 tauchte im Internet ein Video mit dem Titel „Human Bomb“ auf. Das Video zeigt in einem Rückblick und unterlegt von dramatischen Tönen, wie Sarkozy 1993 als Bürgermeister von Neuilly bei einer Geiselname in einem Kindergarten persönlich einschreitet. Sarkozy ging in den Kindergarten und verhandelte höchstpersönlich mit dem Geiselnehmer, der Sprengstoff am Körper trug. Das Drama ging gut aus. Sarkozys Tat war zweifellos mutig und menschlich. Aber die Episode zeigt auch, wozu jemand wie Sarkozy fähig ist. Er geht bis ans Äußerste.

Showdown mit Dominique de Villepin?

Das wird auch nötig sein. Es erwarten ihn starke Gegner. Nicht nur bei der politischen Konkurrenz, sondern auch aus den eigenen Reihen. Dominique de Villepin will offensichtlich kandidieren. Villepin gehörte einst zur UMP und war unter Chirac ein angesehener Innenminister, Außenminister und Regierungschef. Im Jahr 2007 hat er angeblich auf seinen Konkurrenten Sarkozy den Geheimdienst angesetzt, weil dieser auf einer gefälschten Liste mit Politikern und Unternehmern stand, die mutmaßlich Geheimkonten führten. In der so genannte Clearstream-Affäre begann in diesen Tagen das Berufungsverfahren in dem die Staatsanwaltschaft versucht den Freispruch Villepins vom Verdacht des Rufmords zu widerrufen.

Sarkozy wird hoffen, dass Villepin doch noch verurteilt wird. Andernfalls hat er mit Villepin, der im vergangenen Jahr eine eigene Partei mit dem Titel République Solidaire gründete, einen weiteren Gegenspieler, der ihm erhebliche Stimmeneinbußen bescheren kann.

Es bleibt abzuwarten welche Haken Nicolas Sarkozy in den kommenden Monaten schlägt. Geschlagen geben wird er sich nicht. Er wird kämpfen. Mit vollem Risiko und der größtmöglichen Flexibilität.

Mein Leben im Problemkiez: Shiny happy people!

Eine subjektive und unwissenschaftliche Polemik.

Stell Dir vor, man wohnt in einem Problemstadtteil und keiner geht hin! Ich wohne in einem Problemstadtteil. Angeblich. Kreuzberg.

Denn so wurde es mir in den vergangenen Wochen immer wieder eingetrichtert. Das „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ des Berliner Senates markiert es klar und rot auf seiner Karte. Die WDR-Produktion „Zivilcourage“, die in der vergangenen Woche in der ARD lief und die ich nach 20 Minuten nicht mehr ertragen konnte. Eine Sonderserie des ZDF-Morgenmagazins, die im vergangenen Herbst mehrere Tage lang Berichte vom Kottbusser Tor brachte. Oder die öffentlich-rechtliche Krimiserie „Kriminal Dauerdienst“, deren neue Folgen momentan auf Arte laufen und einen wenig schmeichelhaften Blick auf Kreuzberg werfen. Peter Fox, der durch die „Kotze am Kotti“ stolpern muss. Nicht zuletzt mein Steuerberater aus Lichterfelde, der von den Ellenbogen der Passanten am Schlesischen Tor erzählte. Ellenbogen: Böse, spitz, nach außen gestellt, häufig von heißem arabischen Blut durchflossen. Es scheint so, als habe Deutschland endlich sein Brooklyn gefunden – ein nationales Passepartout für benachteiligte Regionen, das man auch in Recklinghausen aus Funk und Fernsehen kennt.

Und dann stehe ich morgens bei meinem Bio-Bäcker, kaufe zwei Schrippen zu einem Preis, für den ich beim Bäcker nebenan sechs Schrippen bekomme, und betrachte die Ökospießer um mich herum und denke mir: „Die könnt ihr nicht meinen, wenn ihr von Problemkiez redet, schreibt, warnt… Denn die finde wohl nur ich problematisch“. Abends sitze ich zwischen den selbsternannten digitalen Bohèmes und Easy-Jet-Andalusiern beim Italiener und finde auch hier keine existenziellen Probleme – außer vielleicht die Angst davor heute Nacht nicht ins Berghain gelassen zu werden.

Ganz offensichtlich scheint es einen Unterschied zwischen datenbasierten Problemanalysen, veröffentlichten Abstiegsdiskursen und der gefühlten Zufriedenheit und Sicherheit der Menschen zu geben, die sich im Rahmen dieser rot markierten Planquadrate ihre Lebensrealität zurechtschustern. Oder braucht es vielleicht die objektive Armut, um in ihren Nischen Lebensentwürfe zu entwickeln, die Trends setzen, zufrieden machen und lebenshungrige Menschen anziehen? Das wäre dann das erbärmliche „Arm aber sexy“ Credo. Und das will man ja eigentlich auch nicht unterstützen, weil es die größte Kapitulation moderner und sozialer Stadtentwicklung der vergangenen 100 Jahre ist und per se schon eine Abwahl rechtfertigen würde.

Seit drei Jahren beobachte ich die Entwicklung rund um die Schlesische Straße. Die Zeit zwischen dem Vorhandensein von etwa fünf coolen Bars in der Straße bis zur Eröffnung der ersten (und mittlerweile wieder geschlossenen) Subway-Filiale betrug zwei Jahre. Eine Entwicklung, für die der vormalige Brennpunkt urbaner Coolness und zur Schau gestelltem Hipstertums – die Kastanienallee – eher sechs Jahre brauchte. Wenngleich es dort bis heute noch nicht mal einen Subway gibt – dafür aber ab Freitags 18 Uhr MOL-Jugendliche. Seitdem die hier sind, denkt man rund um die Zionskirche bei dem Wort „Ac(k)ne“ nicht mehr bloß an teure Jeans, sondern auch wieder an pickelige Visagen schlecht frisierter Vorstadt-Prolls.

Zurück in meinen Problemkiez. Wir erleben hier in diesem Teil von Kreuzberg offenbar drei parallele Entwicklungen:

  1. Armut, gesellschaftliche Ausgrenzung und Bildungsferne manifestieren sich über ethnische Grenzen hinweg. Sozusagen vereint in der Ferne vor Alphabet und Einmaleins.
  2. Auf diesem Fundament (oder in seinen Ritzen?) gedeiht weiterhin ein Bürgertum, dass seine Wurzeln im 20 Jahrhundert bei den 68er und den Frühzeiten der Ökobewegung findet. Anders gesagt: Die Ökospießer. Deren hochgehaltene Toleranz maximal bis zum nächsten Dinkelbrötchen reicht und für die die friedliche Koexistenz mit Punkt 1 als täglicher Beweis für ihre Weltoffenheit dient.
  3. Darüber schweben dann die Hipster und Lebenskünstler aus Süddeutschland, London, Paris und Madrid, die das Dreieck zwischen Badeschiff, Watergate und Möbel Olfe zum Hotspot des Moments erklärt haben und dieses Gebiet ebenfalls als Passepartout für das „gute Jetzt“ benutzen.

Wann immer man über diese drei Entwicklungen spricht, wird man mit dem Kampfbegriff „Gentrifizierung“ konfrontiert. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass Gentrifizierung die Schweinegrippe unter den soziologischen Fachbegriffen ist: Jeder spürt Symptome, die Wenigsten sind wirklich infiziert und wen es trifft, der stellt fest, dass es auch nicht schlimmer als ne normale Grippe ist. Dennoch: Dem Gesetz der Gentrifizierung folgend müssten Entwicklung 2 und 3 die Protagonisten von Entwicklung 1 auffressen. Meine Prognose: Das wird nicht passieren.

Denn jeder der unter 1 bis 3 genannten Gruppen braucht einander, um ihre Lebenswelt aufrecht zu erhalten.

Und am Ende dieser Schnappschuss-Betrachtung über meinen Problemkiez steht dann die kritische Frage an die Schwarzmaler: „Kann es vielleicht sein, dass die Menschen, die hier leben größtenteils sehr zufrieden sind? Und das die öffentliche Stigmatisierung als Problemkiez daran mehr ändern könnte als die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise?“

Kritiker, oh bleibt doch!

Die Zeitschrift SPEX, die mir seit Jahren mit jeder Ausgabe klarzumachen versucht, dass ich zu dumm bin Popmusik im Speziellen und Popkultur im Allgemeinen zu verstehen, hat angekündigt künftig auf Plattenkritiken zu verzichten. Ein Vorgang, den Dietrich Dietrichsen in der FAS vom 10. Januar 2010 in komplizierten Worten als falschen Weg beschrieben hat.

Für für mich war dies Anlass mir ernste Sorgen um die Gattung der professionellen Kritikers zu machen: Sei es nun der Musikkritiker, der Theaterkritiker, der Restaurant- oder Hotelkritiker. Sterben sie jetzt aus? Werden Sie Opfer dessen, was unter dem Begriff „Empfehlungsmarketing“ jeden Tag stärker unsere (Kultur)-Konsumgewohnheiten beeinflusst? Zu hoffen ist das nicht.

Im schlimmsten Fall kommt es so: Zeitschriften, TV-Sender und Verleger kapitulieren vor der demokratischen Konsensmaschine des Mainstream, in der das klare Urteil von der alles einlullenden Dialektik der Masse gefressen wird. Und der Mensch bleibt Mensch… Jaja.

Es begann schleichend. Dem beißenden oder begeisternden Urteil des streitbaren Kritikers wurde zunächst das Modell „pro & contra“ als Geleitschutz zur Seite gestellt. So wurden Platten, Restaurants und Aufführungen immer häufiger von einer wohlwollenden und einer vor Sarkasmus nur so triefenden Stimme gewürdigt. Damit stellte man im Kniefall vor dem Meinungspluralismus sicher, dass jeder Leser sich irgendwie abgeholt fühlt und im Wettbewerb um Anzeigenkunden keine Lesergruppe verprellt wird. Ich kündige mein Abo, weil sie Xavier Naidoo als Tränendrüse beschimpft haben.

Schon das erinnerte ein wenig an die Beliebigkeit und Profillosigkeit unserer Volksparteien, die nicht anecken wollen und jetzt so glatt geschliffen sind, dass sie selbst keinen Halt mehr an sich finden.

Dann kam die zweite Revolution des Internets und seitdem kann jeder alles besprechen. Was per se nicht schlecht ist. Doch wer schon einmal auf der Suche nach Meinungen zu Platten, Restaurants oder Hotels auf den einschlägigen Plattformen herumirrte, der wird in aller Regel am Ende seiner Lektüre mit der Erkenntnis dastehen, dass die Meinungen geteilt sind. Es ebenso viel Lob wir Kritik gibt.

Vor allem weiß man aber nicht, welcher Geist hinter dem einzelnen Urteil steht – das Urteil als solches ist folglich intellektuell anonym und damit wertlos. Denn wenn „Rudeboy46“ das neue Tocotronic-Album albern findet, wäre es für die Einschätzung dieses Urteils nicht übel zu wissen, ob „Rudeboy46“ in seinem CD-Regal vor allem Christina Stürmer und Silbermond stehen hat oder Die Sterne und Blumfeld. Gleiches gilt, wenn „Berlinbärchen“ die Portionen im Restaurant XY als unverschämt klein bezeichnet – auch dann wäre es interessant zu wissen, ob „Berlinbärchen“ sich adipös durchs Leben kugelt oder eben nicht. Der Fernsehturm als Passbild im Nutzerprofil verrät es mir nicht.

Also: Broder, Reich-Ranicki, Siebeck und Wigger mögen häufig nerven. Aber sie bieten Orientierung. Und dem Autor gibt das im Zweifelsfall die Chance zu sagen: „Wenn der Wigger die Platte verreißt, kann ich mir sicher sein, dass ich sie lieben werde.“ Die Kommentarfunktion als Plattform von Meinungspluralismus bietet vor allem Desorientierung und damit Ratlosigkeit.

In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass das Beispiel der SPEX keine Schule macht und die professionellen Kritiker nicht in den ersten Atemzügen des neuen Jahrzehnts tot-getripadvisorqyped werden.