Mein Leben im Problemkiez: Shiny happy people!

Eine subjektive und unwissenschaftliche Polemik.

Stell Dir vor, man wohnt in einem Problemstadtteil und keiner geht hin! Ich wohne in einem Problemstadtteil. Angeblich. Kreuzberg.

Denn so wurde es mir in den vergangenen Wochen immer wieder eingetrichtert. Das „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ des Berliner Senates markiert es klar und rot auf seiner Karte. Die WDR-Produktion „Zivilcourage“, die in der vergangenen Woche in der ARD lief und die ich nach 20 Minuten nicht mehr ertragen konnte. Eine Sonderserie des ZDF-Morgenmagazins, die im vergangenen Herbst mehrere Tage lang Berichte vom Kottbusser Tor brachte. Oder die öffentlich-rechtliche Krimiserie „Kriminal Dauerdienst“, deren neue Folgen momentan auf Arte laufen und einen wenig schmeichelhaften Blick auf Kreuzberg werfen. Peter Fox, der durch die „Kotze am Kotti“ stolpern muss. Nicht zuletzt mein Steuerberater aus Lichterfelde, der von den Ellenbogen der Passanten am Schlesischen Tor erzählte. Ellenbogen: Böse, spitz, nach außen gestellt, häufig von heißem arabischen Blut durchflossen. Es scheint so, als habe Deutschland endlich sein Brooklyn gefunden – ein nationales Passepartout für benachteiligte Regionen, das man auch in Recklinghausen aus Funk und Fernsehen kennt.

Und dann stehe ich morgens bei meinem Bio-Bäcker, kaufe zwei Schrippen zu einem Preis, für den ich beim Bäcker nebenan sechs Schrippen bekomme, und betrachte die Ökospießer um mich herum und denke mir: „Die könnt ihr nicht meinen, wenn ihr von Problemkiez redet, schreibt, warnt… Denn die finde wohl nur ich problematisch“. Abends sitze ich zwischen den selbsternannten digitalen Bohèmes und Easy-Jet-Andalusiern beim Italiener und finde auch hier keine existenziellen Probleme – außer vielleicht die Angst davor heute Nacht nicht ins Berghain gelassen zu werden.

Ganz offensichtlich scheint es einen Unterschied zwischen datenbasierten Problemanalysen, veröffentlichten Abstiegsdiskursen und der gefühlten Zufriedenheit und Sicherheit der Menschen zu geben, die sich im Rahmen dieser rot markierten Planquadrate ihre Lebensrealität zurechtschustern. Oder braucht es vielleicht die objektive Armut, um in ihren Nischen Lebensentwürfe zu entwickeln, die Trends setzen, zufrieden machen und lebenshungrige Menschen anziehen? Das wäre dann das erbärmliche „Arm aber sexy“ Credo. Und das will man ja eigentlich auch nicht unterstützen, weil es die größte Kapitulation moderner und sozialer Stadtentwicklung der vergangenen 100 Jahre ist und per se schon eine Abwahl rechtfertigen würde.

Seit drei Jahren beobachte ich die Entwicklung rund um die Schlesische Straße. Die Zeit zwischen dem Vorhandensein von etwa fünf coolen Bars in der Straße bis zur Eröffnung der ersten (und mittlerweile wieder geschlossenen) Subway-Filiale betrug zwei Jahre. Eine Entwicklung, für die der vormalige Brennpunkt urbaner Coolness und zur Schau gestelltem Hipstertums – die Kastanienallee – eher sechs Jahre brauchte. Wenngleich es dort bis heute noch nicht mal einen Subway gibt – dafür aber ab Freitags 18 Uhr MOL-Jugendliche. Seitdem die hier sind, denkt man rund um die Zionskirche bei dem Wort „Ac(k)ne“ nicht mehr bloß an teure Jeans, sondern auch wieder an pickelige Visagen schlecht frisierter Vorstadt-Prolls.

Zurück in meinen Problemkiez. Wir erleben hier in diesem Teil von Kreuzberg offenbar drei parallele Entwicklungen:

  1. Armut, gesellschaftliche Ausgrenzung und Bildungsferne manifestieren sich über ethnische Grenzen hinweg. Sozusagen vereint in der Ferne vor Alphabet und Einmaleins.
  2. Auf diesem Fundament (oder in seinen Ritzen?) gedeiht weiterhin ein Bürgertum, dass seine Wurzeln im 20 Jahrhundert bei den 68er und den Frühzeiten der Ökobewegung findet. Anders gesagt: Die Ökospießer. Deren hochgehaltene Toleranz maximal bis zum nächsten Dinkelbrötchen reicht und für die die friedliche Koexistenz mit Punkt 1 als täglicher Beweis für ihre Weltoffenheit dient.
  3. Darüber schweben dann die Hipster und Lebenskünstler aus Süddeutschland, London, Paris und Madrid, die das Dreieck zwischen Badeschiff, Watergate und Möbel Olfe zum Hotspot des Moments erklärt haben und dieses Gebiet ebenfalls als Passepartout für das „gute Jetzt“ benutzen.

Wann immer man über diese drei Entwicklungen spricht, wird man mit dem Kampfbegriff „Gentrifizierung“ konfrontiert. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass Gentrifizierung die Schweinegrippe unter den soziologischen Fachbegriffen ist: Jeder spürt Symptome, die Wenigsten sind wirklich infiziert und wen es trifft, der stellt fest, dass es auch nicht schlimmer als ne normale Grippe ist. Dennoch: Dem Gesetz der Gentrifizierung folgend müssten Entwicklung 2 und 3 die Protagonisten von Entwicklung 1 auffressen. Meine Prognose: Das wird nicht passieren.

Denn jeder der unter 1 bis 3 genannten Gruppen braucht einander, um ihre Lebenswelt aufrecht zu erhalten.

Und am Ende dieser Schnappschuss-Betrachtung über meinen Problemkiez steht dann die kritische Frage an die Schwarzmaler: „Kann es vielleicht sein, dass die Menschen, die hier leben größtenteils sehr zufrieden sind? Und das die öffentliche Stigmatisierung als Problemkiez daran mehr ändern könnte als die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise?“