Kritiker, oh bleibt doch!

von mariomuenster

Die Zeitschrift SPEX, die mir seit Jahren mit jeder Ausgabe klarzumachen versucht, dass ich zu dumm bin Popmusik im Speziellen und Popkultur im Allgemeinen zu verstehen, hat angekündigt künftig auf Plattenkritiken zu verzichten. Ein Vorgang, den Dietrich Dietrichsen in der FAS vom 10. Januar 2010 in komplizierten Worten als falschen Weg beschrieben hat.

Für für mich war dies Anlass mir ernste Sorgen um die Gattung der professionellen Kritikers zu machen: Sei es nun der Musikkritiker, der Theaterkritiker, der Restaurant- oder Hotelkritiker. Sterben sie jetzt aus? Werden Sie Opfer dessen, was unter dem Begriff „Empfehlungsmarketing“ jeden Tag stärker unsere (Kultur)-Konsumgewohnheiten beeinflusst? Zu hoffen ist das nicht.

Im schlimmsten Fall kommt es so: Zeitschriften, TV-Sender und Verleger kapitulieren vor der demokratischen Konsensmaschine des Mainstream, in der das klare Urteil von der alles einlullenden Dialektik der Masse gefressen wird. Und der Mensch bleibt Mensch… Jaja.

Es begann schleichend. Dem beißenden oder begeisternden Urteil des streitbaren Kritikers wurde zunächst das Modell „pro & contra“ als Geleitschutz zur Seite gestellt. So wurden Platten, Restaurants und Aufführungen immer häufiger von einer wohlwollenden und einer vor Sarkasmus nur so triefenden Stimme gewürdigt. Damit stellte man im Kniefall vor dem Meinungspluralismus sicher, dass jeder Leser sich irgendwie abgeholt fühlt und im Wettbewerb um Anzeigenkunden keine Lesergruppe verprellt wird. Ich kündige mein Abo, weil sie Xavier Naidoo als Tränendrüse beschimpft haben.

Schon das erinnerte ein wenig an die Beliebigkeit und Profillosigkeit unserer Volksparteien, die nicht anecken wollen und jetzt so glatt geschliffen sind, dass sie selbst keinen Halt mehr an sich finden.

Dann kam die zweite Revolution des Internets und seitdem kann jeder alles besprechen. Was per se nicht schlecht ist. Doch wer schon einmal auf der Suche nach Meinungen zu Platten, Restaurants oder Hotels auf den einschlägigen Plattformen herumirrte, der wird in aller Regel am Ende seiner Lektüre mit der Erkenntnis dastehen, dass die Meinungen geteilt sind. Es ebenso viel Lob wir Kritik gibt.

Vor allem weiß man aber nicht, welcher Geist hinter dem einzelnen Urteil steht – das Urteil als solches ist folglich intellektuell anonym und damit wertlos. Denn wenn „Rudeboy46“ das neue Tocotronic-Album albern findet, wäre es für die Einschätzung dieses Urteils nicht übel zu wissen, ob „Rudeboy46“ in seinem CD-Regal vor allem Christina Stürmer und Silbermond stehen hat oder Die Sterne und Blumfeld. Gleiches gilt, wenn „Berlinbärchen“ die Portionen im Restaurant XY als unverschämt klein bezeichnet – auch dann wäre es interessant zu wissen, ob „Berlinbärchen“ sich adipös durchs Leben kugelt oder eben nicht. Der Fernsehturm als Passbild im Nutzerprofil verrät es mir nicht.

Also: Broder, Reich-Ranicki, Siebeck und Wigger mögen häufig nerven. Aber sie bieten Orientierung. Und dem Autor gibt das im Zweifelsfall die Chance zu sagen: „Wenn der Wigger die Platte verreißt, kann ich mir sicher sein, dass ich sie lieben werde.“ Die Kommentarfunktion als Plattform von Meinungspluralismus bietet vor allem Desorientierung und damit Ratlosigkeit.

In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass das Beispiel der SPEX keine Schule macht und die professionellen Kritiker nicht in den ersten Atemzügen des neuen Jahrzehnts tot-getripadvisorqyped werden.